21.-23.November 2003, Universität Bielefeld, Schule für Historische Forschung
Organisation: Bernhard Jussen und Simona Slanicka
Tagungskonzept
Wenn es Phänomene kultureller Stabilität zu deuten gilt, dann zeigen die geschichtswissenschaftlichen Diskussionen inzwischen einige methodische Sicherheit und leiden kaum noch unter konzeptuellen Verständigungsschwierigkeiten. Das Instrumentarium der in den vergangenen drei Jahrzehnten einflussreichen Soziologen und Anthropologen ist zum Gemeingut geworden. Es bietet einen brauchbaren Diskussionsrückhalt für das weiterhin starke Interesse an Modalitäten kultureller Reproduktion Viel schlechter steht es, wenn nicht Dauer, sondern Wandel, nicht Reproduktions-, sondern Transformationsphänomene zu erklären sind. Zwar wird das eine nie ohne das andere diskutiert, aber Leitbegriffe der Deutung wie „institutionelle Mechanismen“, „Wahrscheinlichkeit“, „Wiederholbarkeit“ oder „Erwartbarkeit“ (etwa im Sinne des Dresdner SFB 537) zeigen deutlich den Interessenschwerpunkt. Mit welchem Leitkonzepten aber werden Phänomene der Veränderung untersucht? Einigkeit läßt sich zwar über die Erklärungsmodelle erzielen, mit denen sich historische Transformationen nicht zureichend erklären lassen. Auf die Defizite kausaler und funktionaler, strukturaler, intentionaler, entwicklungsgeschichtlicher oder teleologischer Argumentation kann man sich schnell einigen und entsprechende Erklärungsmodelle dekonstruieren. Aber welche Alternativen gibt es? Wie kann der Wandel komplexer sozialer Konstellationen wissenschaftlich erfasst werden, wenn der Blick auf Funktionen, Intentionen usw. nicht ausreicht? Wie entsteht diskursive Unruhe, und wie erfasst man den Augenblick, in dem diskursive Unruhe für die sozialen Hierarchien relevant wird? Wie tragen Historiker sowohl der Forderung nach akteurs- und praxisorientiertem Blick Rechnung, als auch der Annahme, dass aus der Summe des ‚Alten‘ das ‚Neue‘ nicht ableitbar ist? Erst in Umrissen zeichnen sich in den historischen Wissenschaften Diskussionen ab, die weniger die Logik der Dauer oder „Institutionalität“, als eher die Modi des Wandels ins Zentrum rücken. Erkennbar ist immerhin, dass „Zufall“ und „Emergenz“ unter den Leitbegriffen der Deutung auffallend prominent sind. Die Schlüsselwörter stehen für Versuche, das Unregelmäßige, Unerwartete und Unableitbare systematisch in die geschichtswissenschaftliche Deutung einzubeziehen. Man verdankt diese Schlüsseltermini unterschiedlichen Denksystemen. Manche neigen zu einem systemtheoretischen (und damit letztlich evolutionstheoretischen) Bezugssystem, andere bestreiten den Nutzen gerade dieses soziologischen Zugriffs, der nicht wenige Errungenschaften wieder zur Disposition stellt, die sich eben erst Gehör verschafft haben (so die Akteurs- und Praxiszentrierung der historischen Deutungen). Die Suche nach bereits fortgeschrittenen Projekten, die sich systematisch den Modi historischen Wandels widmen, bringt bislang noch eine bescheidene Ausbeute. Wie eine Diskussion aussehen kann und welche gegenwärtig gängigen Konzepte sie herausfordert, welche Hypothesen sie ihrerseits benötigt, das ist im Moment noch kaum auszumachen. Am weitesten ausformuliert ist ein Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für Europäi-sche Rechtsgeschichte in Frankfurt mit dem Titel Rechtsgeschichte – Geschichte der Evolution eines sozialen Systems. Das knappe Konzept aus dem Jahr 2002 skizziert, mit welchem methodischen Ballast es die Erforschung historischen Wandels zu tun hat. Die sicherlich polarisierenden Vorschläge dürften der Diskussionen des Brackweder Arbeitskreises wichtige Impulse geben.
Themenspektrum
Die Themenvorschläge zeigen, dass die Vortragenden verschiedene Wege in das Thema suchten. Manche Vorschläge diskutierten das methodische Problem ausgehend von mittelalterlichen Texten, die ihrerseits bereits über Kontingenz und Emergenz nachdenken. Andere wollten aktuelle Deutungen ‚grosser‘ Transformationsprozesse (z.B. „des Untergangs Roms“) diskutieren. Ein breites Feld an Zugriffen ergibt sich auch aus der geschichtswissenschaftlichen Tradition des Zufalls – das Deutungsmuster ‚Zufall‘ stand (wenngleich meist implizit) letztlich hinter einer an großen Persönlichkeiten orientierten Geschichtsschreibung: Der große Feldherr, Staatsmann, Kirchenreformer, der geniale Autor oder Maler, wurden – solange Geschichte an ‚großen‘ Persönlichkeiten orientiert war – wie historische Zufälle behandelt. Daneben gibt es etwa die Möglichkeit, den Nutzen älterer Ansätze zur Erfassung historischen Wandels (etwa des Modells von Berger/Luckmann) im Kontext der aktuellen Diskussionen erneut zu befragen.
Programm
Methodische Diskussion, eingeleitet durch folgende Kommentare
Egon Flaig (Greifswald): Objektive Möglichkeit und Emergenz
Marie Theres Fögen (Frankfurt): Geschichte als evolutionärer Prozess
Rudolf Stichweh (Luzern): Zufall und Emergenz als systemtheoretische Begriffe
Peter Strohschneider (München): Zufall als Kategorie historischer Beobachtung. Empirische Erprobungen
Lars Beerisch (Bielefeld): Gleiche Bedingungen, unterschiedliche Ergebnisse: Spätmittelalterliche Handwerkeraufstände
Michael Kempe (Frankfurt): Der Untergang Roms, oder: Warum es Historikern so schwer fällt, den Zufall in der Geschichte zuzulassen
Christian Kiening (Zürich): Das Problem der neuen Welt
Reinhard Laube (Göttingen): Kontingenzbewältigung in der spätmittelalterlichen Chronistik (am Beispiel Ungarn)
Christina Lutter (Wien): Kontingenz statt Kohärenz. Für eine Geschichtsschreibung der Möglichkeiten am Beispiel Geschlecht und Wissen im 12. Jahrhunderts
Mischa Meier (Bielefeld): Kontingenzerfahrung im Zeitalter Justinians